Veränderte Lebensgewohnheiten und mehr Naharbeit lassen Myopie weltweit ansteigen. In Deutschland sind etwa 25 % der Menschen kurzsichtig. Wissenschaftler fordern, bei kurzsichtigen Kindern unter zwölf Jahren die Myopie zu kontrollieren, um ihr Fortschreiten dadurch verlangsamen zu können*. Studien zeigen, dass Myopie bei jüngeren Kindern am schnellsten fortschreitet. Myopie in jungen Jahren erhöht das Risiko für Augenkrankheiten im Erwachsenalter.
Wie entsteht Myopie bei Kindern?
Dr. Seidemann: „Myopie – oder Kurzsichtigkeit – entsteht, wenn das Zusammenspiel von der Brechkraft des Auges und der Augenlänge nicht richtig zusammenpasst. Betroffene sehen zwar in der Nähe scharf, in der Ferne jedoch nur verschwommen.
Die übermäßige Länge des Auges kann verschiedene Ursachen haben, die die komplexe Entwicklung des kindlichen Auges beeinträchtigen; Bildet sie sich über einen längeren Zeitraum hinweg, nimmt die Myopie also zu. Wir sprechen dann von einer Myopieprogression oder auch dem Fortschreiten der Myopie."
Warum ist es gerade bei myopen Kindern wichtig, frühzeitig zu handeln?
Dr. Seidemann: „Wenn eine Myopie zu stark fortschreitet und sich eine hohe Myopie entwickelt, steigt das Risiko des Auftretens bestimmter Augenkrankheiten wie einem Glaukom, Katarakt, Makulaerkrankungen und/oder Netzhautablösungen. In vielen Studien wurde gezeigt, dass das Risiko solcher Erkrankungen, die durch Myopie entstehen, wesentlich mit deren Intensität zusammenhängt.
So zeigt beispielsweise Haarman in einer seiner Studien, dass die Wahrscheinlichkeit eines Kindes mit einer Myopie zwischen -3,0 und -5,0 dreimal höher, ein Glaukom zu entwickeln, was bis zur Erblindung führen kann. Jede zusätzliche Dioptrie erhöht das Risiko, Augenerkrankungen zu entwickeln. Gleichzeitig verringert das Verlangsamen einer Myopieprogression um eine Dioptrie während der Kindheit beispielsweise das Risiko der Entwicklung einer myopen Makulopathie deutlich.
Es ist daher äußerst wichtig, das Fortschreiten der Myopie bei jungen Kindern ab dem Moment ihrer Diagnose zu verlangsamen und einer Myopieprogression so schnell wie möglich entgegenzuwirken."
Wie beurteilen Sie als Experte, dass Kinder aktuell meistens herkömmliche Einstärkengläser gegen Myopie erhalten?
Dr. Seidemann: „Herkömmliche Einstärkengläser können die Myopie zwar für unterschiedliche Blickrichtungen korrigieren, aber nicht das Längenwachstum der Augen verlangsamen oder einem Fortschreiten der Myopie entgegenwirken."
Dr. Seidemann: „Durch die Art und Weise, wie normale Einstärkengläser die Myopie korrigieren, kann es dazu kommen, dass das Licht in der Peripherie hinter der Netzhaut auftrifft. Manche Kinderaugen versuchen, sich anzupassen und wachsen übermäßig in die Länge, was dazu führen kann, dass die Myopie weiter fortschreitet. Für ein aktiveres Myopiemanagement benötigt es folglich eine Lösung, die hier eingreift, wie beispielsweise spezielle Myopiegläser, die das Augenlängenwachstum verlangsamen und so das Fortschreiten der kindlichen Myopie kontrollieren können."
Wie wirken spezielle Myopiegläser im Allgemeinen?
Dr. Seidemann: „Spezielle Myopiegläser wie MyCon® von Rodenstock verfügen über seitlich angeordnete Bereiche zur Progressionskontrolle, die sicherstellen sollen, dass das Licht in der Peripherie so gebrochen wird, dass es bereits vor der Netzhaut auftrifft. Damit soll dem Auge signalisiert werden, dass es in den peripheren Bereichen bereits zu lang ist, wodurch das Augenlängenwachstum verlangsamt werden kann. Der Fokusbereich im Glas ist hingegen so gestaltet, dass das Kind scharf sieht. Es bietet Kindern somit scharfes Sehen und kann das Fortschreiten der Myopie verlangsamen."
Was können Optiker ihren Kunden konkret empfehlen, um einer Myopie bei Kindern natürlich bzw. präventiv entgegenzuwirken.
Dr. Seidemann: „Gut in den Alltag lässt sich die „20/20/2“ Regel von Caroline Klaver einbinden, die ich für alle Kinder empfehlen kann: während des Lesens nach 20 Minuten für mindestens 20 Sekunden in die Ferne schauen und mindestens 2 Stunden am Tag draußen verbringen. Denn der Aufenthalt im Freien an sich wirkt schon präventiv. Bei Tätigkeiten in der Nähe soll der Abstand mindestens 30 cm betragen. Neuere Studien deuten darauf hin, dass 20 Sekunden für den Blick in die Ferne nach Möglichkeit weiter ausgedehnt werden sollten und nach 45 Minuten eine längere Pause eingelegt werden sollte."
Über Dr. Anne Seidemann:
Als Biologin promovierte Dr. Anne Seidemann in der Kurzsichtigkeitsforschung am Uniklinikum Tübingen. Als Senior Manager Research Optics bei Rodenstock verantwortet sie die Bereiche Physiologie und Myopie und leistet dadurch einen großen Beitrag, um die Augengesundheit bei Kindern zu verbessern.
Bildquelle: Rodenstock Gmbh
Quellen
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